Die strikte Trennung der Vergütung von ambulant und stationär erbrachten Leistungen verhindert eine sektorenübergreifende Optimierung der Gesundheitsversorgung und damit auch eine Erhöhung der Effizienz des Gesamtsystems. Diese ist jedoch dringend erforderlich, wenn eine Rationierung von Leistungen vermieden werden soll.
Sollten regionale Gesundheitsbudgets als bessere Vergütungsform das DRG-System ablösen? Was sind die Voraussetzungen, damit sie funktionieren und wie können sie eingeführt werden? Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtables der Stiftung Münch, der zum ersten Mal online durchgeführt wurde.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Prof. Dr. Franz Benstetter, Professor for Health Economics and Social Insurance
- Dr. Michael Brinkmeier, Vorstandsvorsitzender, Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
- Dr. Patricia Ex, Geschäftsführerin, Bundesverband Managed Care e. V.
- Dr. Axel Fischer, Geschäftsführer, München Klinik
- Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender, OptiMedis AG
- Dr. Wolfgang Krombholz, Vorstand KVB
- Dr. Michael Lauerer, Geschäftsführer, GWS – Gesundheit, Wissenschaft, Strategie GmbH
- Dr. Alexander Steinmann, Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
- Dr. Andreas Tiete, Geschäftsführer Klinikum Ingolstadt GmbH
- Dr. Nikolai von Schroeders, Geschäftsführer Deutsche Gesellschaft für Medizincontrolling e.V.
- Johannes Wolff, Referatsleiter Krankenhausvergütung, GKV-Spitzenverband
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stv. Vorstandsvorsitzender), Professor Bernd Griewing (Vorstand), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel (Operative Geschäftsführerin).
„Die bestehenden Finanzierungssysteme folgen nicht mehr den tatsächlichen Entwicklungen in der Medizin“
Eine Neuregelung der Vergütung von Gesundheitsleistungen ist dringend nötig. Das DRG-System ist in die Jahre gekommen, waren sich die Teilnehmer der Diskussionsrunde einig. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt, dass mit dem Jahr 2020 die Pflegepersonalkosten aus den DRGs herausgenommen wurden und seitdem direkt durch die Krankenkassen finanziert werden müssen – mit weitreichenden Folgen. „Die bestehenden Finanzierungssysteme folgen nicht mehr den tatsächlichen Entwicklungen der Medizin“, resümierte ein Diskussionsteilnehmer und betonte, dass es an der Zeit für einen Systemwechsel sei.
Eine Alternative können regionale Gesundheitsbudgets, sogenannte „Capitationmodelle“, sein: Eine Region erhält ein festgelegtes Budget für die Versorgung der Bevölkerung, unabhängig davon, wo und wie diese stattfindet. Dadurch entsteht ein Anreiz, dass statt durch eine Erhöhung der Leistungen der Fokus auf der Vermeidung unnötiger Behandlungen und auf Gesundheitsprävention gelegt wird.
Einblick in Erfahrungen mit regionalen Gesundheitsbudgets in Alzira (Spanien) und der Schweiz
In einigen Ländern werden regionale Gesundheitsbudget bereits eingesetzt. In einer Studie hat die Stiftung Münch einige davon analysiert und Voraussetzungen für eine Implementation in Deutschland abgeleitet. Professor Benstetter und Dr. Lauerer, die an dieser Studie beteiligt waren, stellten die Erfahrungen aus der spanischen Region Alzira und der Schweiz vor.
In Spanien mit seinem steuerfinanzierten Gesundheitssystem wird die Versorgung in den einzelnen Regionen relativ autark organisiert. Nachdem zunehmend mit schlechter Versorgungsqualität, langen Wartezeiten, veralteter Infrastruktur und einem drastischen Kostenanstieg gekämpft wurde, führten verschiedene Regionen regionale Gesundheitsbudgets ein. Private Konsortien aus Krankenversicherern und einem Finanzierer (der Sparkasse) übernahmen die Gesundheitsversorgung als Private Public Partnership (PPP) in einer Region mit jeweils rund 200.000 bis 300.000 Einwohnern, was etwa einem Landkreis in Deutschland entspricht. Ihnen wurde für die Versorgung der Bevölkerung ein Budget zur Verfügung gestellt, bei dem 20 Prozent der bisherigen Kosten abgezogen wurden. Sollte darüber hinaus ein Gewinn entstehen, durfte ihn das Konsortium behalten, bei schlechtem Abschluss musste es sich dagegen an den Mehrkosten beteiligen. Auch wurden Anreize für die Qualität gesetzt. So konnten unzufriedene Patienten in die benachbarte Region zur Behandlung gehen – in dem Fall musste der Konzessionär die in der benachbarten Region angefallenen Kosten zu 100% übernehmen. Der Vertrag wurde auf mehr als 15 Jahre angelegt, um eine langfristige Wirkung zu erzielen und insbesondere auch Anreize für Prävention zu setzen.
Das Ergebnis: das avisierte Effizienzziel wurde erreicht, die Patientenzufriedenheit gesteigert und die Wartezeiten für die Patienten reduziert. Mit dem Wechsel zu einer sozialistischen Regierung wurden die Modelle allerdings eingestellt. Es zeichnet sich ab, dass sich Effizienz, Qualität und Wartezeiten wieder verschlechtern – und die politische Unterstützung eine Voraussetzung für das Gelingen ist.
Die Schweiz gilt als Vorreiter von Managed Care in Europa und hat bereits in den 1990er Jahren Pionierarbeit mit der Einführung regionaler Gesundheitsbudgets geleistet. Doch 2011 gab es davon eine Abkehr, die bei Gesundheitsbudgets implizite Risikobeteiligung der Leistungserbringer wurde ersetzt durch Einzelleistungsvergütungen, Effizienz- und Qualitätsboni. In der Schweiz waren maßgeblich die niedergelassenen Ärzte und nicht – wie in Spanien – Krankenhäuser involviert. Sie unterstützten diese die Modelle nicht mehr, weil sich für sie kein finanzieller Vorteil mehr ergab mit dem Ergebnis, dass sich momentan eine Abkehr von regionalen Gesundheitsbudgets beobachten lässt.
Welche Faktoren sind für den Erfolg von regionalen Gesundheitsbudget notwendig?
Versicherte der Region als wichtigste Zielgruppe und als Korrektiv
Welche Faktoren sind essentiell, damit regionale Gesundheitsbudgets erfolgreich sind? Die Teilnehmer waren sich einig, dass möglichst viele lokale Akteure eingebunden werden müssen. Dazu zählen neben Ärzten, Versicherten und Krankenkassen auch andere an der Gesundheitsversorgung beteiligte Gruppen wie zum Beispiel Physiotherapeuten und Apotheken. Insbesondere die niedergelassenen Ärzte seien nicht einfach zu einer Teilnahme zu bewegen, hier gäbe es oft große Widerstände und „Verharrungstendenzen“, berichtet ein Diskutant.
Die wichtigste Zielgruppe für das Gelingen von regionalen Gesundheitsbudgets sind die Patienten und Versicherten einer Region, betonten einige Teilnehmer der Runde. Deshalb müssten sie als wichtigste Stakeholder in erster Linie adressiert und zur Teilnahme motiviert werden. Nutzen sie in großer Zahl die Versorgung des regionalen Netzwerks, so entstehe automatisch ein Anreiz für die Ärzte, sich daran zu beteiligen. Dabei muss gewährleistet werden, dass die Versicherten leichten Zugang zu einer anderen Versorgung haben, wenn sie mit dem regionalen Netz nicht zufrieden sind. „Die Patienten stimmen dann mit den Füßen ab“, formulierte es ein Teilnehmer – und werden damit zum maßgeblichen Korrektiv zur Steigerung der Versorgungsqualität. Dass das frühzeitige Einbinden der Patienten ein entscheidender Faktor für das Gelingen der regionalen Budgets ist, zeigen auch die Erfahrungen aus anderen Ländern, wie ein Teilnehmer des Gesprächs betonte.
Öffentlicher Gesundheitsdienst als neuer Unterstützter?
Eine weitere Lektion aus anderen Ländern: Regionale Gesundheitsbudgets müssen politisch gewollt werden, damit sie Bestand haben. Und nur, wenn sie auf längere Zeit angelegt werden, können sich ihre Vorteile – die Verschiebung von stationärer Krankheitsbehandlung hin zu ambulanter Versorgung und zum Fokus auf Prävention – entfalten. Um die politische Unterstützung, insbesondere der Lokalpolitik, zu erhalten, sah ein Teilnehmer der Diskussion durch die SARS-CoV-2 Epidemie einen neuen potenziellen Akteur: den Örtlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). „Für den ÖGD ist die Pandemieplanung erschwert, weil es keine übersektorale Organisationseinheit als Ansprechpartner gibt“, so der Diskutant. Die Bedeutung koordinierter Versorgung sei in der Krise deutlich geworden. Deshalb, so seine Überzeugung, könnte der ÖGD ein wichtiger Unterstützer von regionalen Gesundheitsbudgets werden und damit Einfluss auf die Lokalpolitik nehmen.
„Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein“
Wann sollten regionale Gesundheitsbudgets eingeführt werden?
Der Zeitpunkt, um regionale Gesundheitsbudgets einzuführen, könnte nicht besser sein, waren sich die Teilnehmer der Diskussion einig. Nicht nur sei das DRG-System „ausgereizt“, auch könne mit den bestehenden Finanzierungssystemen nicht die – politisch gewollte – Ambulantisierung der Medizin umgesetzt werden.
Dazu komme, dass sich schon bald durch die Corona-Krise die wirtschaftliche Situation auch der Gesetzlichen Krankenkassen zuspitzt. Durch die Freihaltepauschalen und die zusätzlichen Ausgaben zum Beispiel für Tests und Schutzkleidung entstehen zusätzliche Kosten. Damit wachse der Handlungsdruck, zeigte sich ein Teilnehmer der Diskussion überzeugt: „Bisher waren regionale Gesundheitsbudgets für die Krankenkassen nur eine Spielerei, aber das wird sich in ein wirtschaftliches Interesse verändern.“ Und auch die Patienten hätten nun erstmals die Erfahrung gemacht, wie es ist, wenn man länger auf eine nicht dringliche Behandlung warten muss – was in den Augen eines Diskutanten ebenfalls die Akzeptanz von regionalen Gesundheitsbudgets fördern könnte. Derzeit sei die Auslastung in den Krankenhäusern niedriger und liege zum Teil nur bei etwa 60%. Das sei nicht ausschließlich die Folge der Vorgabe, elektive Eingriffe zu verschieben, meinte ein Diskutant: „Viele Patienten, die jetzt nicht mehr zur Behandlung ins Krankenhaus kommen, benötigten vielleicht auch nur eine ambulante Versorgung.“ Man müsse dies nächstes Jahr im Rückblick genau evaluieren und könne daraus lernen, welche Vergütungsanreize in welcher Form wirkten.
Und auch die Erkenntnis der Bedeutung einer regional koordinierten Gesundheitsversorgung trägt dazu bei, dass der Zeitpunkt für die Einführung regionaler Budgets günstig ist. Ein Teilnehmer betonte: „Es zeigt sich der Mangel an Verantwortlichkeiten, wir wissen nicht, welches Krankenhaus für welchen Patienten zuständig ist und wer wo behandelt wird.“ Gerade im ländlichen Bereich existieren für die Sicherstellung der Versorgung verschiedene konkurrierende gesetzlich definierte Verantwortlichkeiten. „Das stellt die Versorgung nicht sicher und schreit nach einer Lösung“, so der Teilnehmer. Er sah deshalb den Zeitpunkt als ideal, um Subsidiarität, Capitation und Eigenverantwortlichkeit in die Praxis umzusetzen.
Durch die Corona-Krise haben zudem digitale Angebote einen enormen Aufschwung erfahren: Telemedizinische Konsultationen werden verstärkt wahrgenommen, Arbeitsunfähigkeitsbestätigungen dürfen ohne Arztbesuch ausgestellt werden, Apps zur Kontrolle von Symptomen werden eingesetzt. Die Digitalisierung ist, wie sich aus den Erfahrungen mit regionalen Gesundheitsbudgets in anderen Ländern zeigt, ein wichtiger Erfolgsfaktor für deren Gelingen. Damit sind nun auch in dieser Hinsicht gute Voraussetzungen geschaffen.
Das alte System ersatzlos streichen?
Wie können regionale Gesundheitsbudgets eingeführt werden?
Ein kompletter Systemwechsel wird nicht gelingen – diese Einschätzung teilten die Teilnehmer der Diskussion. Deshalb sollten in einer Übergangsphase beide Finanzierungsmodelle parallel laufen. „Wir müssen das alte und das neue System nützen und über die Akzeptanz gehen“, so ein Diskutant. Dabei sei es wichtig, dass nicht nach einer Lösung gesucht werde, die für die nächsten 100 Jahre Bestand hat: „Wir müssen mit risikobereiten Entrepreneuren anfangen und wir brauchen hochflexible Lösungen, die sich austarieren können.“ Die Einführung der regionalen Gesundheitsbudgets sollte in ländlichen Gegenden beginnen und bei Erfolg ausgebaut werden.
Ein Diskutant sprach sich zudem dafür aus, dass es besser sei, zunächst mit virtuellen Budgets zu arbeiten. Nach der Evaluation und der Ermittlung der tatsächlichen Kostenersparnis könne dann der Überschuss an die beteiligten Akteure ausbezahlt werden. Er sehe 20% Kostenersparnis als realistisch an, davon sollte seiner Auffassung nach 75% an den Investor und die Leistungserbringer gehen, 25% an die Krankenkassen. Außerdem sei ebenfalls ein entscheidender Punkt, finanzielle Risiken adäquat zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern aufzuteilen, um ein Scheitern zu vermeiden.
Kann es gelingen, die vielen verschiedenen Interessengruppen für regionale Gesundheitsbudgets zu gewinnen? Ein Teilnehmer formulierte es so: „Es ist eine Herausforderung, eine gute Zusammenarbeit zu entwickeln, aber es ist nicht unmöglich. Ich bin optimistisch.“
Über regionale Gesundheitsbudgets haben wir auch mit Professor Boris Augurzky gesprochen.
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