Die prägende Metapher beim jüngsten online Luncheon Roundtable der Rhön Stiftung war der Kleiderschrank beziehungsweise der Blick in denselben: Vielen Menschen dürfte beim Anblick längst nicht mehr getragener Kostüme, Hosen, Hemden, Blusen oder Jacken der Gedanke kommen „das kann weg, das auch, und das sowieso“. Übertragen auf das Thema der Experten-Runde sollte so anschaulich gemacht werden, dass es im deutschen Gesundheitswesen viel zu viele Regelungen gibt, die den Alltag der Medizindienstleister behindern und lähmen und also aussortiert werden müssten. Anlass für die Diskussion waren die zu Beginn dieses Jahres eingeführten Hybrid-DRG, also Fallpauschalen, die es ambulanten und stationären Leistungserbringern ermöglichen, Behandlungsleistungen mit oder ohne Krankenhausbett zu erbringen, und das bei gleicher Vergütung. Damit sollen sie den Weg in die Ambulantisierung ebnen – stellen aber gleichzeitig auch neue, komplizierte Regeln da, von denen man doch eigentlich viele ausmisten möchte.
Über diese dilemmatische Situation diskutierten online und in angeregter Atmosphäre folgende Teilnehmer:
- Kerstin Bockhorst, Leiterin des Referats Versorgungsstrukturen des GKV-Spitzenverbands
- Roland Engehausen, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft e.V.
- Prof. Dr. Steffen Gramminger, Geschäftsführender Direktor der Hessischen Krankenhausgesellschaft
- Martin Heumann, Geschäftsführer des Krankenhauszweckverbands Rheinland e.V.
- Robert Möller, CEO Helios
sowie von der Stiftung Münch Prof. Andreas Beivers, Leiter wissenschaftliche Projekte und Geschäftsführerin Annette Kennel.
Auf die Metapher vom überfüllten Kleiderschrank anspielend zählte ein Teilnehmer an den Fingern seiner Hand verschiedene Behandlungs- bzw. Vergütungsformen ab, um dann mit einer rhetorischen Frage Dampf abzulassen: „Wir haben im Krankenhaus – Achtung! – die tagesstationäre Behandlung, die Übergangspflege, ambulantes Operieren nach AOP-Katalog, jetzt neu die Hybrid-DRG und als Kirsche auf der Torte die intersektorale Versorgung. Liebe Leute: Haben wir noch ein System, das wir beherrschen können?“ Selbstredend bezweifelte er das und forderte: „Nach dem Motto ´Mal so, mal so` wird es nicht funktionieren, weder ökonomisch noch was die Qualität der Behandlung angeht.“ Stattdessen brauche es klare, einfache Regeln, um in den Krankenhäusern routinierte Prozesse zu etablieren. Im Prinzip seien Hybrid-DRG ein gutes Instrument, jedoch bräuchten die Häuser nun ausreichend Zeit, um sich damit auf den Weg in die Ambulantisierung zu machen: „Das System kann nicht auf Knopfdruck verändert werden.“
Dass die Hybrid-DRG, wenn sie sich etablieren sollen, noch einen langen Atem erfordern, illustrierte ein Teilnehmer anhand von Berechnungen im eigenen Umfeld: Demnach würden in den betrachteten Kliniken nur 0,63 Prozent des Case Mix auf Hybrid-DRG entfallen, das entspräche 1,05 Prozent der Fälle; und auch bei einem erweiterten Hybird-DRG-Katalog käme man auf lediglich 0,8 Prozent beim Case Mix und auf 1,4 Prozent der Fälle. Diese Zahlen seien ernüchternd: „Ich hatte den Hybrid-DRG mehr zugetraut, das sieht nicht nach einem Boost aus.“ Und auch dieser Teilnehmer mahnte: „Wenn wir nicht wegkommen von der immer komplizierteren Denke, wird das nichts mit der Ambulantisierung.“
Zweifel an der „Magie“ der heilsamen Nacht im Krankenhaus
Weitgehende Einigkeit bestand unter den Teilnehmern darin, dass die Zahl der stationären Krankenhausfälle im internationalen Vergleich zu hoch ist und angesichts knapper Kassen und Personaldecken reduziert werden muss – und kann. Ein Teilnehmer kreierte in diesem Zusammenhang die zweite bleibende Metapher der Diskussion, als er befand: „Wir haben viel zu lange an der ´Magie der Nacht` im Krankenhaus festgehalten. Ich jedenfalls sehe nicht, dass ausgerechnet die Übernachtung zur Genesung der Patienten beiträgt“, dies gelte vor allem für Kinder und Jugendliche. Die tagesstationäre Behandlung, bei der Patienten zu Hause schlafen und von dort am nächsten Tag wieder in die Klinik kommen, könne neben Hybrid-DRG ein gutes Instrument sein, um das ambulante Potenzial der Krankenhäuser zu heben. Allerdings seien die Kostenträger oft misstrauisch und argumentierten, dass ein Patient, der einmal zu Hause übernachtete, fortan nur noch ambulant versorgt werden dürfe.
Ein anderer Teilnehmer umriss drei Felder, um bei der Ambulantisierung voranzukommen: zum einen Leistungen, bei denen man einem Patienten guten Gewissens zutrauen könne, im eigenen Bett zu übernachten, mithin ein Plädoyer für die tagesstationäre Behandlung, die auch länger als drei Tage dauern könne; zweitens relativ einfache, aber diagnostisch aufwändige Leistungen gemäß AOP-Katalog (unter genauer Beobachtung der finanziellen Auswirkungen auf den vertragsärztlichen Sektor); und drittens komplexere Tagesfälle im Bereich von ein bis drei Tagen gemäß Hybrid-DRG, die sich heute noch oft im stationären Bereich abspielen. Notwendig seien dafür aber mehr und bessere Kriterien zur Abgrenzung der Fälle bezüglich ihrer Abrechnung nach AOP-Katalog, Hybrid-DRG oder vollstationärer Versorgung.
Hybrid-DRG: Nur in kleinen Schritten in die gewünschte Richtung
So berichtete ein Teilnehmer, dass sich Leistungen nach dem AOP-Katalog leichter steuern ließen, während Leistungen nach Hybrid-DRG problematisch seien, weil bei der Aufnahme eines Patienten oft noch nicht klar sei, ob es sich um einen hybriden Fall handele oder nicht. „Und dann schlägt das Argument der Controller durch, dass die Hybrid-DRG zwar die gleiche Behandlung erfordert, aber etwa ein Drittel weniger Erlös generiert.“ Deshalb müsse überlegt werden, wie die Klassifikation als Hybrid-DRG-Fall prozessual nach vorne gerückt werden können, „denn dann kann das Krankenhaus die Behandlung ressourcenschonender organisieren“.
Ein anderer Teilnehmer erläuterte eine Problematik der Hybrid-DRG aus Sicht der Kassen: Unter den Ein-Tages-Fällen sei ein hoher Anteil notfallnaher Leistungen, die auch von Vertragsärzten erbracht werden könnten; nach Hybrid-DRG abgerechnet, würde das die Kosten massiv in die Höhe treiben (zugunsten der Vertragsärzte); in den Krankenhäusern wiederum müssten gerade im Notfallbereich Lösungen für finanziell auskömmliche Behandlungen gefunden werden, wofür jedoch ein weiterentwickelter AOP-Katalog besser geeignet sei als Hybrid-DRG. Deren Potenzial liege vor allem bei den Drei-Tages-Fällen, die nicht so ohne weiteres in einer Vertragsarztpraxis versorgt werden könnten (wie z.B. eine Blinddarm-OP, die allerdings in anderen europäischen Ländern oft schon ambulant erfolgen). „Hier müsste man sukzessive Qualitäts- und Strukturkriterien entwickeln. Deshalb erwarte ich nicht, dass wir in den nächsten Jahren mit Hybrid-DRG Millionen Fälle ambulantisieren können, ich rechne eher mit kleineren Schritten.“
Das Ziel: Ein Katalog, eine Medizin, und bei Bedarf Übernachtungskosten
Ein Teilnehmer brachte sogar die Überlegung ins Spiel, Hybrid-DRG wieder abzuschaffen. Seine Begründung: Die Vergütung sei eine typische Mischkalkulation, die für Leistungserbringer finanziell manchmal vorteilhaft sei, manchmal nachteilig; letztlich wisse man nie genau, worauf man sich einlasse. Ein Mit-Diskutant bestätigte: „Mischkalkulationen bergen immer die Gefahr der Risikoselektion, die im Zweifel zulasten der Krankenhäuser geht: Leichtere Fälle landen im MVZ und können ohne stationäres Setting im Hintergrund und bei hoher Taktung gute Erlöse abwerfen, während die selteneren schwierigen Fälle in einer vollstationären Einrichtung behandelt werden und finanziell entsprechend unattraktiver sind.“ Das Problem, meinte ein Dritter, sei das ideelle Prinzip der Hybrid-DRG, wonach für die gleiche Leistung gleiches Geld bezahlt werde; das sei dem Grunde nach auch völlig richtig, würde aber zum Problem, wenn die Leistung nicht genau definiert sei. Das wiederum, so führten mehrere Teilnehmer aus, erfordere jedoch umfangreiche Qualitäts- und Abgrenzungskriterien.
Damit schloss sich der Kreis diskursiv: Denn mehr Regeln zur Abgrenzung der Behandlungs- und Vergütungsformen stehen dem großen gemeinsamen Ziel entgegen, den Kleiderschrank endlich richtig auszumisten. Der aus diesem Dilemma hinausführende folgende Vorschlag eines Teilnehmers wurde deshalb von vielen wohlwollend bis deutlich zustimmend aufgenommen und könnte als größter gemeinsamer Nenner dieser Luncheon-Runde gelten: „Wir müssen von den tausend Insellösungen wegkommen. Die bessere Lösung könnte so aussehen, dass die eine medizinische Leistung adäquat vergütet wird. Und wenn jemand übernachten muss – aus Gründen, die klar zu definieren sind –, muss das eben auch vergütet werden, in etwa so wie früher, als es den Basispflegesatz obendrauf gab. Das wäre ein Katalog und eine Medizin, mal mit Bett, mal ohne.“ Ein Teilnehmer unterstrich das mit einer kritischen Anmerkung: „Das, was die Branche verkraften kann an zusätzlichen Abgrenzungsverordnungen, ist begrenzt. Jetzt ist die Altkleidersammlung der richtige Weg. Aber auf dem Weg sind wir im Moment leider nicht.“