28. Juni 2016
Die Bevölkerung in vielen ländlichen Regionen schrumpft. Junge Menschen wandern ab, es bleiben die Älteren. Das Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung spricht von einer Negativspirale: „Die Bevölkerung nimmt ab, weil immer mehr Menschen fortziehen – vor allem, weil Arbeitsplätze fehlen. Weniger Einwohner und ein mangelhaftes Arbeitsplatzangebot bedeuten eine sinkende Kaufkraft und zurückgehende Steuereinnahmen. Wenn dann immer weniger Geld investiert werden kann, verstärkt das den negativen Trend.“
Für die medizinische Versorgung bedeutet das: die auf dem Land verbliebenen Menschen sind überwiegend in einem Alter, in dem sie häufiger medizinische Hilfe benötigen. Doch viele Haus- und Facharztpraxen verwaisen, die Praxisinhaber finden keine Nachfolger mehr. Dies führt dazu, dass immer mehr Patienten direkt in Kliniken gehen, die damit faktisch immer öfter die ambulante Versorgung mit übernehmen – mit der Folge, dass vor allem die Notaufnahmen permanent überlastet werden. Aber auch die Kliniken haben Probleme, qualifiziertes Personal zu gewinnen – und kämpfen oft darum, so zu wirtschaften, dass sie ihren Betrieb noch aufrechterhalten können.
Neue Versorgungskonzepte sind also dringend erforderlich, um eine bestmögliche Gesundheitsversorgung der schrumpfenden ländlichen Regionen weiterhin zu gewährleisten und damit gegebenenfalls sogar die Abwärtsspirale zu durchbrechen. Dabei spielen eine stärkere Zentralisierung der Kapazitäten, die Überwindung der Sektorengrenzen und die Nutzung neuer Technologien eine wichtige Rolle. Wie diese Konzepte aussehen könnten und wo die Probleme bei ihrer Umsetzung liegen, darüber diskutierten die Teilnehmer des dritten Luncheon Roundtable-Gesprächs 2016 der Stiftung Münch.
An der Diskussion nahmen teil:
- Dr. Karl Blum, Leiter Geschäftsbereich Forschung Deutsches Krankenhaus Institut
- Dr. Johannes Hütte, Geschäftsführer pro homine, Marien-Hospital gGmbH Wesel
- Dr. Siegfried Jedamzik, Geschäftsführer Bayerische TelemedizinAllianz BTA
- Marie Uhrenholt-Olesen, Innovationskonsulent Sundhed.dk
- Monika Röther, Geschäftsführerin Gemeinnützige Krankenhausges. des Landeskreises Bamberg mbH
- Werner Schmitt, Stellv. Geschäftsführer und Regionaldirektor Nord Landeskrankenhaus (AöR) Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach
Sowie von der Stiftung Münch Stephan Holzinger (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stellv. Vorstandsvorsitzender), Prof. Bernd Griewing (Vorstand), Prof. Boris Augurzky (wissenschaftlicher Geschäftsführer), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer, Syndikus) und Annette Kennel (Öffentlichkeitsarbeit).
Die Studie über ländliche Krankenhäuser von BDO und DKI 2014 kommt zu dem Ergebnis, dass es in fast jeder zweiten ländlichen Region zu wenige Hausärzte und in 38 Prozent zu wenige Fachärzte gibt. „Die ambulante ärztliche Versorgung auf dem Land steht vor dem Kollaps“, fasste ein Teilnehmer die Situation zusammen: „Das antiquierte KV-System behindert die ländliche Praxisbildung und scheitert daran, Fachärzte aufs Land zu bekommen. Das System ist an sich tot. Auch die Hausarztpraxis ist tot.“ Aktuell wird versucht, jungen Ärzten die Niederlassung auf dem Land wieder schmackhaft zu machen. Locken soll das Geld. Doch die Teilnehmer waren sich einig, dass eine solche „Ansiedlungsprämie“ nicht zum gewünschten Erfolg führt. „Das löst das Problem nicht langfristig“, so die Teilnehmer. Oft stünden Praxissitze leer, obwohl es satte finanzielle Anreize gäbe. Es stelle sich die Frage, ob es denn überhaupt sinnvoll sei, Geld für die Niederlassung auf dem Land zu geben – statt dieses Geld zum Beispiel in technische Innovationen zu investieren, die die Versorgungsprobleme mit modernen Methoden angehen.
In der Konsequenz übernehmen immer häufiger die Kliniken die ambulante Versorgung. Durch Kooperationen untereinander und den Versuch, niedergelassene Ärzte einzubinden oder durch MVZ-Strukturen Ärzte zu gewinnen, die keine freiberufliche Tätigkeit anstreben, versuchen sie, die Versorgung aufrechtzuerhalten. Die Überwindung der Sektorengrenzen sei entscheidend, um die Versorgung für die Patientenversorgung auch künftig organisieren zu können.
Doch auch hier gebe es große Probleme. Zum einen sei der Wille zu solchen sektorenübergreifenden Kooperationen oft erst vorhanden, wenn die ambulante Versorgung „mit dem Rücken zur Wand steht.“ Zum anderen stehen bei allen Beteiligten immer die Einzelinteressen im Vordergrund. Aber nicht nur daran scheitern oft sinnvolle, übergreifende Konstrukte, sondern auch an den verschiedenen Zuständigkeiten. „Das Problem ist nicht das Geld. Das Problem ist die Fragmentierung“, äußerte sich ein Teilnehmer. Und nicht zuletzt kämpfen auch die Krankenhäuser damit, qualifizierte Ärzte zu gewinnen.
Wie könnten Lösungen aussehen?
Campusbildung und Überwindung der Sektorengrenzen
Die ländliche Versorgung kann nur funktionieren, wenn sie zentral organisiert und die Sektorengrenzen überwunden werden. Die Ambulanzen der Krankenhäuser müssen geöffnet, Zentren gebildet, andere Arbeitsmodelle als nur die Niederlassung für ambulant tätige Ärzte möglich sein. Ein Teilnehmer zeigte sich überzeugt, dass solche Gesundheitszentren nicht nur die Versorgung der Bevölkerung verbessern, sondern auch für junge Erwerbstätige attraktiv sind – und damit dazu beitragen können, die Landflucht zu stoppen. „In den großen Städten finden Sie kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Wenn wir attraktive Arbeitsplätze und bezahlbare Mieten anbieten, kann das durchaus einen Anreiz bilden, wieder aufs Land zu ziehen.“
Aufwertung der Allgemeinmedizin und Modernisierung der Weiterbildung
Ein weiterer wichtiger Baustein sind eine Aufwertung und eine neue Definition der Allgemeinmedizin. An den Universitäten finden sich bereits vereinzelt eigene Lehrstühle, doch „diese werden oft belächelt, als lästig wie Fliegen betrachtet und nicht ernst genommen.“ Ärzte durchlaufen zwar die Ausbildung, jedoch in der Regel, um sich danach zu spezialisieren. Ein vielversprechender Ansatz könnte das Projekt des Universitätsklinikums Marburg sein. Diskutiert wird dort derzeit die Einrichtung von 20 Lehrstühlen für ambulante Medizin als zweite medizinische Fakultät, die unter anderem die Lehre übernehmen und außerdem eigenständig Versorgungsforschung etablieren. Künftig müsse der ambulant tätige Mediziner in einem Netzwerk die Befugnis haben zu entscheiden, wie und wo der Patient weiter behandelt werden muss. Damit könnte die ambulante Medizin aufgewertet und attraktiver werden. Schließlich sei die zunehmende Spezialisierung in den einzelnen Disziplinen zwar wichtig, jedoch bestehe der Mensch nicht nur aus einzelnen Organen – „es muss am Ende jemand die Fäden in der Hand halten und alles zusammenführen.“
Auch die Weiterbildung der Ärzte müsste dringend überholt werden, waren sich die Teilnehmer einig. Da für die Weiterbildungsermächtigung eine Hauptabteilung erforderlich ist, müssten Kliniken diese entweder aufrechterhalten oder errichten, obwohl sie in der Form eventuell gar nicht erforderlich ist – oder auf die Ausbildung der benötigten Fachrichtung verzichten. Auch die Dauer der Weiterbildung sei nicht angemessen. So könne sich die Facharztausbildung über zehn Jahre erstrecken. „Ob die Qualität der Ausbildung gut ist, wenn ich vor zehn Jahren mal etwas über Chirurgie gelernt habe, ist sehr fraglich“, so ein Teilnehmer. Zudem müssten Innovation wie etwa die Digitalisierung und Telemedizin stärker berücksichtigt werden.
Einsatz neuer Technologien und Berufsbilder
Um in dünn besiedelten Gebieten mit einer zentralen Bündelung in Gesundheitszentren die Versorgung in der Fläche zu ermöglichen, ist zudem zunehmend der sinnvolle Einsatz innovativer neue Techniken wie etwa der Telemedizin nötig. So kann Expertenwissen herangezogen werden, ohne dass es an jedem Ort vorgehalten werden muss. Eine Zukunftsvision ist auch der Einsatz von digitalen Systemen bei der Erstellung der ersten Anamnese. Die Fragen, die beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt gestellt werden müssen, können durch einen Computer vorgegeben und ausgewertet werden, der auch Hinweise auf eine mögliche Diagnose gibt und Vorschläge für die weitergehende Diagnostik und Therapie unterbreitet. Damit könnte beim ersten Eintreffen in der Ambulanz das gesamte weltweit vorhandene medizinische Wissen berücksichtigt werden. Der Patient muss dabei von einer Bezugsperson betreut und begleitet werden, die die Informationen des Systems beurteilt, die nächsten Schritte mit dem Patienten bespricht und in die Wege leitet. Für diese Aufgabe könnte ein eigenes Berufsbild entstehen, ein Arzt, dessen Kernkompetenz hohe kommunikative Fähigkeiten und ein breites Allgemeinwissen sind. Denkbar wäre auch medizinisch qualifiziertes Personal, das aber kein Medizinstudium absolviert haben muss.
Blick nach Dänemark: seit zehn Jahren elektronische Patientenakte und Superkrankenhäuser
In Dänemark wird die ländliche Versorgung durch die Errichtung von 16 neuen „Superkrankenhäusern“ in den fünf dänischen Gesundheitsregionen neu ausgerichtet. Alle verfügen über eine elektronische Patientenakte, zu der die behandelnden Ärzte und auch die Patienten Zugang haben. Darüber werden auch die niedergelassenen Ärzte mit den Klinikärzten vernetzt. Bei mangelnder Transparenz drohen Strafen, so dass die Teilnahme regen Zulauf findet. Die Klinken sind für die ambulante Versorgung zuständig, von dort aus wird der Patient entsprechend seiner Erkrankung gesteuert. Dabei ist die Kommune für die Patientenversorgung verantwortlich.
Fazit
Partikularinteressen, Regularien, Vorgaben – all dies steht den Veränderungen im Weg. „Ich würde gerne ein Versorgungsnetzwerk aufbauen, wo ich mir nicht dauernd Gedanken machen muss über Regeln, Zulassungen und das KV-System, sondern wo ich einfach danach planen kann, welchen Arzt mit welcher Qualifikation ich wann und wo brauche.“ Die finanziellen Mittel und Vorgaben werden nicht von staatlicher Seite kommen. Die kleinen und mittelgroßen Kliniken und Verbünde werden es aus eigener Kraft kaum schaffen. Deshalb braucht es große Verbünde, die mutig vorangehen.