8. Juni 2017
„Smart Technologies für Silver Agers“ – Welche Technologien werden im Ambient Assisted Living, AAL, genutzt? Wie steht es um Akzeptanz und Nachfrage? Welche Angebote sind notwenig und wie sieht die Finanzierung aus? Mit diesen Fragen befassten sich die Teilnehmer des Luncheon Roundtables am 23. Mai in der Stiftung Münch.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Prof. Dr. Josef Hilbert, Geschäftsführender Direktor am Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen
- Götz Leschonsky, Geschäftsführer Kursana Residenzen
- Karolina Molter, Projektleiterin Strategische Weiterentwicklung der DRK Altenhilfe
- Thomas Norgall, Fraunhofer Allianz Ambient Assisted Living AAL und Fraunhofer Institut für integrierte Schaltungen IIS
- Lothar Schöpe, Mitglied der Geschäftsführung der Smart-Living Anwendungen für Service-Wohnen GmbH
- Manouchehr Shamsrizi, Geschäftsführer RetroBrain R&D UG
- Prof. Dr. Klemens Waldhör, Professor der Wirtschaftsinformatik an der FOM Nürnberg
Sowie von der Stiftung Münch Eugen Münch (Stv. Vorstandsvorsitzender), Prof. Dr. Bernd Griewing (Vorstand), Prof. Dr. Boris Augurzky (wiss. Geschäftsführer), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel.
Während die Bevölkerungszahl in Deutschland sinkt, nimmt die Anzahl der alten Menschen zu: bis zum Jahr 2030 wird jeder Vierte über 65 Jahre alt sein, die Anzahl der über 80jährigen verdoppelt sich auf mehr als 6,4 Millionen. Viele leben zunehmend allein und die Anzahl der Haushalte mit einem Haushaltsvorstand über 75 wird sich bis 2030 auf etwa sieben Millionen erhöhen – 38 % mehr als im Jahr 2010. Dabei lebt der überwiegende Teil der älteren Menschen auch heute in einer normalen Wohnung, selbst dann, wenn sie auf Pflege und Hilfe im Alltag angewiesen sind. Doch das Wohnungs- und Versorgungsangebot entspricht nicht den Anforderungen, die sich daraus ergeben. Nur etwa ein bis zwei Prozent sind altersgerecht.
Bedarf an AAL ist gegeben – aber Ideen setzen sich nicht durch
„Ambient Assisted Living“, kurz AAL könnte dazu beitragen, die Lücke zwischen dem Bedarf und dem Angebot zu reduzieren. AAL steht für intelligente Umgebungen, die sich selbstständig, proaktiv und situationsspezifisch den Bedürfnissen des Benutzers anpassen, um ihn im täglichen Leben zu unterstützen. Damit könnte die Lebensqualität der „Silver Ager“, also der noch gesunden, aktiven Senioren, verbessert werden. Doch auch behinderte oder pflegebedürftige Menschen könnten – unterstützt durch AAL – weiter in ihrer eigenen Wohnung leben – ggf. unter Einbeziehung weiterer Personen wie Familienangehöriger oder Ärzte.
Den Bedarf sahen alle Teilnehmer der Diskussionsrunde als gegeben. Die Senioren möchten zu Hause leben, die Nachfrage nach Pflege und betreutem Wohnen wächst stetig und nicht nur in stationären Einrichtungen. Technisch möglich wäre vieles. Smart Watches können Stürze erkennen und melden oder gar Hinweise darauf geben, ob sich der Gesundheitszustand verschlechtert, weil die üblichen Bewegungen nicht mehr stattfinden. Intelligente Sensoren erkennen, wenn eine Herdplatte nicht ausgeschaltet wurde und reagieren darauf. Computerspiele können auf unterhaltsame Art zur Prävention von Erkrankungen beitragen. Roboter können die Bewohner bei verschiedenen Tätigkeiten unterstützen. Doch viele Ansätze und Ideen scheinen ins Leere zu laufen. Lediglich der Hausnotruf hat sich durchgesetzt. Vielversprechende Projekte, wie zum Beispiel das „virtuelle Altenheim“, mit dem den Menschen zu Hause eine Betreuung wie im Altenheim geschaffen werden sollte, stellten sich dagegen als „erfolgreiche Rohrkrepierer“ heraus.
Woran liegt es, dass sich die vielen Ideen nicht durchsetzen? Ein oft zitiertes Argument lautet, dass die Senioren nicht mit der Technik umgehen können. Doch die Teilnehmer des Gespräches hatten Zweifel an diesem Argument. Die alten Menschen seien durchaus lernfähig und auch Hochbetagte zeigten eine hohe Akzeptanz und seien neuen Technologien gegenüber offen, es fehle meist lediglich an der Vermittlung. Dieses Problem könne aber zum Beispiel durch geschulte Techniklotsen gelöst werden. Gerade spielerische Angebote und solche, die soziale Interaktionen ermöglichen, hätten überdurchschnittliche Erfolge gezeigt. „Selbst wenn es offiziell nicht zugegeben wird: Einsamkeit ist ein großes Thema“, formulierten es übereinstimmend mehrere Diskutanten.
Regularien und Rahmenbedingungen als größtes Hindernis
Ein größeres Hindernis bei der Einführung von AAL-Technologien sahen die Teilnehmer hingegen in den Regularien und Rahmenbedingungen – zum Beispiel der Kostenübernahme, die im Heil- und Hilfsmittelkatalog geregelt ist. Die meisten der AAL-Technologien würden unter den Begriff „Hilfsmittel“ fallen, der sich unter anderem dadurch definiert, dass „Hilfsmittel die Teilhabe am normalen Alltag und gesellschaftlichen Leben“ sichern sollen. Was in den Katalog aufgenommen wird, liegt in der Hand des GKV-Spitzenverbandes – er hat jedoch nur Empfehlungscharakter. Im Einzelfall entscheidet die zuständige Kasse. Einen Anspruch auf Kostenerstattung gibt es nicht. Daran scheitere oft, dass innovative Techniken zum Einsatz kommen. Das System sei viel zu begrenzt und es dauere zu lange, neue Leistungen festzuschreiben. So ist im Hilfsmittelverzeichnis als einziger Punkt in der Kategorie „Pflegehilfsmittel zur selbständigen Lebensführung und Mobilität“ der Hausnotruf aufgeführt.
Es scheitert auch oft daran, dass es unterschiedliche Budgettöpfe gibt, die nicht miteinander verknüpft sind. Gerade präventive Angebote fallen durch das Raster. So etwa bei Hilfsmitteln zur Sturzprävention: „Die GKV zahlt das nicht, weil es kein Heilmittel ist – es ist ja noch nichts passiert. Die Pflegekasse darf es auch nicht, weil ja noch kein Pflegefall vorliegt.“ Ein Durchbruch könne vielleicht durch das neue Präventivgesetz erreicht werden, das den GKVen vorgibt, ein gewisses Budget für präventive Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Ausgeblendet sei bisher auch der soziale Aspekt, der sich aus den neuen Technologien ergebe. Werden Wohnungen entsprechend eingerichtet, stelle sich das Problem der Finanzierung ebenfalls: oft würden die Neuerungen als „Wohnkomfort“ abgetan. „Der Pflegezweck im Hinblick auf Prävention interessiere erst einmal nicht. Auch wenn er politisch gewollt ist“, so ein Teilnehmer. Andere berichteten, dass bei Bauprojekten die Wohnungsanpassungsmaßnahmen nur in einzelnen Wohnungen umgesetzt werden.
„Gesundheit ist das undankbarste Thema, dem man sich technisch widmen kann“
Die vielen Hürden, die sich den Herstellern innovativer Produkte in den Weg stellen, bergen nach Ansicht der Diskussionsteilnehmer große Gefahren: „Gesundheit ist das undankbarste Thema, dem man sich technisch widmen kann“, resümierte ein Teilnehmer. Er sah einen Teil des Problems auch in der Selbstverwaltung, die keinen Konsens ermögliche, da jede Änderung stets für eine Partei der Selbstverwaltung zu einem Nachteil führe. „Es fehlt jemand, der bestimmt: „Du gibst jetzt von Deinem Kuchen den anderen ein Stück ab.“
Weitere Teilnehmer warnten, dass sich bei den jungen Innovatoren Frust breit mache. Es herrsche eine Kluft zwischen dem Interesse an künstlicher Intelligenz und Gesundheitswesen und der Bereitschaft, damit etwas zu machen. „Wenn junge Leute hier schon verloren gehen, dann verliert man das gesamte Innovations- und Disruptionspotenzial.“ Denn die Forschungsprojekte, die von großen Unternehmen angestoßen werden, hätten in den seltensten Fällen das Potenzial, skaliert und in den Markt gebracht zu werden – und seien in der Regel auch nicht disruptiv.
Entwicklung pragmatischer Angebote und Erhöhung der Bekanntheit als Lösungsoption
Welche Lösungen schlagen die Teilnehmer des Gesprächs vor? Es müssten Lücken gefüllt und Anwendungen entwickelt werden, die einen großen Nutzen haben und auf breite Resonanz stoßen – auch unter den Selbstzahlern, also sehr pragmatische Lösungen bieten. So entstehe eine Nachfrage, die etwas bewegen könne. Dabei sollte man sich nicht allein auf die Senioren als Zielgruppe beschränken, denn vielfach seien die Angehörigen die Akteure und Entscheider. Dazu komme, dass es im Ausland oft bereits vielversprechende und bewährte Ansätze gebe, die man übernehmen könnte. „Stattdessen wird aber oft versucht, das Rad neu zu erfinden, Probleme anzugehen, die woanders schon gelöst wurden. Und dabei kommen manchmal merkwürdige Sachen raus.“
Zudem seien die vielfältigen Möglichkeiten, die es gäbe, dem Großteil der Menschen nicht bekannt. Würde sich dies ändern, könnte ebenfalls der nötige Druck ins System kommen, zeigt sich ein Teilnehmer überzeugt. So war es möglich, die Vorlesungsunterlagen einer renommierten Universität kostenfrei online einzusehen. Das hat bei anderen Studenten die Frage aufgeworfen, warum sie das an ihrer Universität nicht könnten. Mittlerweile ist das möglich. Die Unternehmen und Verbände der Pflegeanbieter sollten nicht abwarten, sondern vorangehen und Innovationen nutzbringend einsetzen. Das würde ihnen trotz Kosten auch Vorteile bringen können. Denn angesichts des immer knapper werdenden Personals könnten sie sich so als attraktiver Arbeitgeber positionieren. „Langfristig zahlt sich das aus“, so die Meinung.
Eine sehr innovative Art, die Kosten zu decken, wurde ebenfalls intensiv diskutiert: „Die Menschen könnten mit ihren Daten zahlen.“ Momentan würde jeder täglich seine Daten Google, Facebook und anderen zur Verfügung stellen – einfach so. Daten, gerade im Gesundheitswesen, sind zum Beispiel zu Forschungszwecken jedoch durchaus wertvoll. Warum nicht dem Datenlieferanten dafür etwas bieten? Diese Daten könnten dann zur Entwicklung von geeigneten neuen Produkten verwendet werden.
Am Ende brauche man aber trotz aller schöner neuer Technik immer noch Menschen, die sich um die Senioren kümmern. Denn es gebe Dinge, die nicht an Technik übertragbar seien – so wie etwa bestimmte Aspekte der Körperpflege. Aber gerade, damit für diese Tätigkeiten noch ausreichend Menschen vorhanden sind, ist der Einsatz von Technik so wichtig. Denn dadurch können die zunehmend knappen Arbeitskräfte genau dort eingesetzt werden, wo sie wirklich unersetzlich sind.