23. Oktober 2017
Überlastung, zu niedrige Bezahlung, zu wenig Personal – in der Pflege scheinen die Probleme überdimensional. Wie stellt sich die Lage aktuell und in Zukunft dar? Können Innovationen, zum Beispiel aus der Robotik, zu einer Lösung der Probleme beitragen? Wie kann die Attraktivität des Berufes erhöht werden? Ist die strikte Trennung zwischen ärztlichen und pflegerischen Leistungen noch zeitgemäß? Und welche Rolle spielen politische Vorgaben wie Personaluntergrenzen und die neue Ausbildungsordnung? Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtable zur „Zukunft der Pflege“ am 17. Oktober im München.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Prof. Johann Behrens, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Martin Luther-Universität Halle
- Dr. Sabine Berninger, Pflegedirektorin, Klinikum Josefinum Augsburg
- Kirsten Gaede, Chefredakteurin Schlütersche Verlagsgesellschaft
- Dr. Patrick Jahn, Leiter Stabsstelle Pflegeforschung. Universitätsklinikum Halle
- Elke Keinath, Pflegeexpertin APN, Florence Nightingale-Krankenhaus Düsseldorf
- Barbara Napp, Pflegerische Zentrumsleiterin, Universitäres Herzzentrum Hamburg GmbH (UHZ)
- Prof. Jürgen Osterbrink, Vorstand Institut für Pflegewissenschaft und -praxis, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg
- Susann Schumann, Customer Model Manager, Bristol-Myers Squibb GmbH & Co. KGaA
sowie von der Stiftung Münch Stephan Holzinger (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stellv. Vorstandsvorsitzender), Prof. Bernd Griewing (Vorstand), Prof. Boris Augurzky (wiss. Geschäftsführer), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel.
Klare Karriereoptionen, um Berufseinsteiger nicht zu verlieren
Dass es derzeit viel zu wenige Menschen gibt, die in der Pflege arbeiten, ist Fakt. Die Zahl der offenen Stellen wächst deshalb weiter an. Die Personalsituation muss dennoch differenziert betrachtet werden, betonten die Teilnehmer der Diskussion. So gebe es Bereiche und Regionen, in denen Stellen sehr gut besetzt werden können, in anderen Bereichen und Regionen seien die Probleme dagegen groß.
Doch offene Stellen besetzen oder die Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen, ist eine Sache. Die andere – und in den Augen der Diskutanten wichtigere – ist es, die Mitarbeiter in den Pflegeberufen zu halten. Dabei helfe die vielfache Forderung nach der Arbeitgeberattraktivität nicht ohne weiteres weiter, „das ist viel zu lapidar“, so ein Teilnehmer. Denn nach dem Berufseinstieg entschieden sich leistungsstarke Pflegemitarbeiter oft für andere Karrierewege wie zum Beispiel ein Studium. In manchen Fällen diente die Ausbildung sogar lediglich als Überbrückung bis zu einem Studium. „Da hilft auch keine Ballungsraumzulage“, betonte ein Teilnehmer.
Um dies zu vermeiden und den Pflegeberuf dauerhaft attraktiv zu machen, müsste Klarheit geschaffen werden, welche Karriereoptionen und -wege es gebe bzw. geben könnte. Diese müssten definiert werden – und dabei berücksichtigt, dass trotz Akademisierung der Pflege immer noch eine „Tätigkeit am Krankenbett“ möglich ist. Zum Vergleich zog ein Gesprächsteilnehmer heran, dass Ärzte ja auch studieren, dennoch aber die Patienten behandeln. Ein Teilnehmer wies auch darauf hin, dass die Frage „wie bekommen wir die Pflegenden in die Häuser“ falsch gestellt sei. Man müsse dagegen diskutieren, welche „Skills“ die Patienten brauchen – und danach entsprechend qualifiziertes Personal ausbilden und einsetzen.
Mehr Attraktivität durch mehr Gehalt?
Die Attraktivität des Berufes allein durch eine Erhöhung der Bezahlung zu steigern, sei ein Irrglaube – darin waren sich alle Teilnehmer des Gesprächs einig. Zum einen gehörten die Pflegeberufe – der Perzeption in der Öffentlichkeit zum Trotz – zu den gut bezahlten, nichtakademischen Berufen. Und nur mehr Geld zu fordern, löse die Probleme des Berufsstandes nicht. Im Gegenteil, zeigte sich ein Diskussionsteilnehmer überzeugt: „Sie bekommen dann eine Art Stillhalteprämie.“ Es gehe aber nicht darum, bloß die gegenwärtigen Probleme zu bewältigen, sondern um die Aufstellung der Pflege für die nächsten Jahrzehnte. Dabei müsse der Berufsstand auch sich selbst und seine Aufgaben kritisch hinterfragen.
Entscheidend sei es deshalb, dass die Mitarbeiter der Pflege beginnen, „größer“ zu denken und unternehmerisch zu handeln. Was kann die Pflege leisten? Welchen Nutzen schafft sie? Welche Vergütung ist dafür gerechtfertigt? Schließlich verfüge keine andere Berufsgruppe im medizinischen Bereich über so viel Erfahrung, Wissen und Zugang zu den Patienten. Dieses Wissen und die Kompetenz müssten gebündelt, eine klare Strategie entwickelt und in die Waagschale geworfen werden. Dabei sollten sich die Mitarbeiter der Pflege nicht scheuen, Verantwortung zu fordern und selbstbewusster aufzutreten. „Dazu ist auch ein Pionierbewusstsein nötig“, betonte ein Teilnehmer.
Wichtig sei es, für Veränderungen nicht auf Hilfe von außen und Regulierung durch die Politik oder Gewerkschaften zu setzen – eine Eigenschaft, die in der Pflege jedoch überdurchschnittlich weit verbreitet sei und die von einem Gesprächsteilnehmer als „Alimentierhaltung“ bezeichnet wurde. So wurde auch die Diskussion, die vor dem Bundestagswahlkampf durch die Frage eines Pflegers an die Bundeskanzlerin ausgelöst wurde („Frau Merkel, was tun Sie für die Pflege?“), kritisch gesehen. „Ich habe mich gefragt, wieso sie das denn muss – das macht sie ja auch nicht für andere Berufsgruppen“, so ein Gesprächsteilnehmer. Die Verantwortung dürfe nicht auf andere übertragen werden, sondern die Pflege sei selbst gefordert, aktiv zu werden und für ihre Forderungen einzustehen. Sie muss ihre Kompetenzen darlegen und darauf aufbauend selbstbewusst und fordernd auftreten. Ein Teilnehmer schilderte, dass zum Beispiel für Vorträge auf Kongressen häufig niemand aus der Berufsgruppe der Pflege gewonnen werden könne – und nicht zuletzt auch aufgrund dieser Schüchternheit die berechtigten Belange der Pflege oft nicht gehört werden.
Potenzial an der Schnittstelle Medizin und Pflege heben
Eine höhere Attraktivität könnten die Pflegeberufe durch Übernahme von mehr Verantwortung gewinnen. Gerade die Schnittstelle zwischen Medizin und Pflege berge hierfür ein hohes Potenzial. In der Realität sei es oft so, dass die Pflege im Alltag viele Arbeiten übernimmt, die Verantwortung dafür aber letztlich wieder dem Arzt überlasse. Es herrsche „organisierte Unverantwortlichkeit“: der Arzt ist verantwortlich für Tätigkeiten, die er selbst nicht beaufsichtige und kontrolliere. Die Pflege wiederum führt die Arbeiten durch, jedoch unter dem Deckmantel, eine ärztliche Verschreibung auszuführen. Das sei falsch und in anderen Ländern wie etwa Finnland oder Großbritannien anders geregelt. Dies würde nicht nur die Pflege stärken – auch Ärzte würden durch die resultierende Entlastung durchaus profitieren. „Wir dürfen viel, kritisiert wird nur, sobald es offiziell anerkannt werden soll“, monierte ein Teilnehmer.
Läge auch die offizielle Verantwortung bei der Pflege, müsste sie nicht auf Weisungen warten. Dazu gehöre auch, dass die Pflegekräfte Leistungen anfordern, die zusätzlich benötigt werden. So, wie etwa auch ein Hausarzt einen Röntgenbefund „dazukaufe“ – ohne, dass dadurch eine unterschiedliche Wertigkeit der Berufe entstehe. Es gehe nicht darum, Reviere abzustecken, sondern schlicht darum, das anzuerkennen, was gelebte Praxis ist –auch offiziell. „Ich will eigene Fälle, Verantwortung und fachlich führen“, so ein Teilnehmer, „das macht für mich den Beruf attraktiv.“
Würde man weg von Delegation und Weisung hin zu Übernahme von Verantwortung kommen, wäre auch die Kompetenz des Berufsstandes schnell geklärt, waren die Teilnehmer der Diskussion überzeugt.
Können eine Untergrenze für Pflege, der Einsatz von ausländischen Pflegekräften oder Roboter die Probleme lösen?
Pflegeanhaltszahlen seien keine Lösung, war sich die Gesprächsrunde einig. Sie seien im Übrigen politisch entschieden, jedoch gar nicht durchgehend von der Pflege gefordert worden. Vielmehr handele es sich um eine Reaktion auf fehlende politische und unternehmerische Vorschläge aus der Pflege. Auch der Einsatz von Pflegekräften aus anderen Ländern sei keine Strategie, um die anstehenden Probleme nachhaltig zu lösen: „Wir können nicht ein Loch stopfen, in dem wir es anderswo aufreißen“, so ein Teilnehmer. Der Einsatz von Robotern sowohl bei Servicetätigkeiten als auch zur Unterstützung etwa schwerer Hebetätigkeiten (Exoskelette) werde sicher vieles verändern. Auch wenn die Akzeptanz in Deutschland noch verhalten ist, sollten die Potenziale gehoben werden, dabei müssen die neuen Technologien „sanft“ eingeführt und ihre Einsatzfelder gezielt ausgewählt werden. Doch letztlich gäbe es pflegerische Aufgaben, die nicht von Maschinen übernommen werden können.
Ein Teilnehmer merkte an: „Ich kann das Gejammer nicht mehr hören.“ Es gelte, endlich aufzustehen, Kompetenz zu zeigen und eine langfristige Strategie für die Pflege zu entwickeln. Es könne nicht sein, dass die größte Berufsgruppe in der Gesundheitsbranche es nicht schaffe, sich besser zu organisieren.