Als sich die Teilnehmer des jüngsten Luncheon Roundtable der Rhön Stiftung Anfang April zur eineinhalbstündigen online-Diskussion trafen, war der Koalitionsvertrag der zukünftigen Bundesregierung noch nicht veröffentlicht, aber es war genügend durchgesickert, um darüber profund zu debattieren. Die wichtigsten Punkte, die die Experten auf ihrer imaginären Agenda an die zukünftigen Koalitionäre nach Berlin schickten, betrafen das Primärarztsystem und die Patientensteuerung, die elektronische Patientenakte (ePA) und die anzustrebende Regionalisierung des Gesundheitswesens. Mehrere Diskutanten verwendeten das Wort „Sorge“ im Zusammenhang mit den Plänen in der Hauptstadt, denn dort sei nicht unbedingt jener Aufbruchswille zu spüren, der angesichts des immensen Umbaubedarfs nötig wäre. Umbau deshalb, weil vergleichbare Länder weniger Geld für ihr Gesundheitswesen ausgeben und dennoch besser bei der Lebenserwartung und anderen Parametern abschneiden – wobei die gegenwärtige demographische Entwicklung den Handlungsdruck deutlich erhöht. „Wir haben ein echtes Aufwand-Ertrags-Thema, der Outcome ist nur mittelmäßig“, bekannte ein Diskutant. Mit Blick auf zukünftige Entscheidungen der Politik sagte ein Teilnehmer: „Unsere deutsche Neigung zur Präzision macht die Dinge oft nicht gerechter, sondern ungerechter“, und erntete damit die Zustimmung eines anderen: „Durch unseren Perfektionswahn werden wir imperfekt. Uns ist eine gehörige Portion Pragmatismus verloren gegangen, den wir vor dem Hintergrund knapper Ressourcen so dringend für neue Lösungen bräuchten.“
Folgende Experten waren an diesem online-Format der Rhön Stiftung beteiligt:
- Prof. Dr. Karl Max Einhäupl, Kongresspräsident des Hauptstadtkongresses
- Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) in der Charité
- Prof. Dr. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH)
- Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG)
- Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit
- Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender der AOK NordWest
- Bernhard Seidenath, gesundheits- und pflegepolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion im Bayerischen Landtag
sowie von der Rhön Stiftung Vorstandsvorsitzender Boris Augurzky, Geschäftsführerin Annette Kennel und Andreas Beivers, Leiter wissenschaftliche Projekte und Moderator des Luncheon Roundtable.
Plädoyer für Primärarztsystem und mehr Eigenbeteiligung
Als eine „dramatische Veränderung“ im positiven Sinn bezeichnete ein Teilnehmer die Pläne der künftigen Koalitionäre, ein Primärarztsystem einführen zu wollen. Kaum ein anderes Gesundheitssystem steuere seine Patienten so schlecht durchs Labyrinth der Leistungserbringer: „Die Absicht, durch das Primärarztsystem die heilige Kuh der komplett freien Arztwahl zu schlachten, ist eine Kulturrevolution.“ Wichtig sei bei einer so tiefgreifenden Veränderung, dass es ein Miteinander der Akteure gebe: „Da braucht es eine neue Partnerschaft zwischen Ärzten und Krankenkassen.“ Das Primärarztsystem sei richtig und wichtig, könne aber kein Gamechanger sein, wandte ein Teilnehmer ein. „Die Kapazitäten bei den Hausärzten reichen schlicht nicht dafür aus, dass alles über sie läuft.“ Ihnen müsse zwingend eine Leitstelle vorgeschaltet werden, um Nachfrage aus dem System zu nehmen. Diese Aufgabe könnten nicht-ärztliche Fachkräfte leisten, deren Tätigkeiten aufgewertet und durch Telemedizin unterstützt werden müssen. „Wenn die Patienten merken, dass sie bei dieser Leitstelle einen Termin beim Arzt, eine Teillösung oder gar eine fallabschließende Bewertung bekommen, vielleicht sogar ganz ohne ärztliche Mitwirkung, werden sie diese Art von Steuerung als attraktiv erleben.“ Ein anderer Teilnehmer bekräftigte die Sorge vor einer Überforderung der Primärärzte: „Die brauchen anständige digitale Tools, sonst schaffen sie das nicht. Aber leider passiert in der Telemedizin viel zu wenig. Meines Erachtens müsste jede Konsultation, vielleicht sogar die Notfallkonsultation, telemedizinisch erfolgen – und erst dann kommt man zum Arzt vor Ort.“

Ein Teilnehmer warnte vor einem am grünen Tisch erstellten Primärarztsystem „von Flensburg bis ins Allgäu“, das wohl zum Scheitern verurteilt sei. Zu groß seien die unterschiedlichen Bedarfe und Kapazitäten in ländlichen Gebieten und in Städten. Geboten seien deshalb Konzepte, die auf die jeweilige Region abgestimmt sind.

Mehrheitlich sprachen sich die Teilnehmer dagegen aus, in der GKV unterschiedliche Tarife anzusetzen, je nachdem, ob sich Versicherte dem Primärarztsystem anschließen oder nicht. „Wenn man überzeugt ist, dass die Steuerung über Primärärzte richtig ist, sollte man auf Kollektivverträge setzen. Wer dennoch direkt zum Facharzt geht, müsste dann eine Zuzahlung leisten,“ meinte ein Experte. Unterschiedliche Tarife könnten den Eindruck erwecken, dass die günstigere Primärarztvariante eine schlechtere Versorgung bietet. „Das würde eine gute Idee diskreditieren.“ Weitgehende Einigkeit bestand auch bei der Frage einer stärkeren Eigenbeteiligung der Patienten, die im internationalen Vergleich sehr niedrig sei bzw. gar nicht existiere. Absolut falsch sei es jedoch, mehr Selbstbeteiligung einfach nur damit zu begründen, dass Finanzlücken bei den Kassen gestopft werden müssen. „Dann würde die Stimmung bei den Versicherten, aber auch bei anderen Akteuren komplett wegbrechen“, warnte ein Teilnehmer. Akzeptanz sei nur zu erreichen, „wenn wir durch bessere Steuerung gleichzeitig die Servicequalität für die Patienten erheblich verbessern.“

Kann die elektronische Patientenakte zum Gamechanger werden?
Bezüglich der elektronischen Patientenakte (ePA) waren die Meinungen divers. Während die einen in ihr den „Schlüssel für alles“ sahen – „sie hat das Potenzial, das zentrale Instrument für eine bessere Patientensteuerung zu werden“ – erinnerten andere skeptisch an die unendlich scheinende Historie der ePA und gaben zu bedenken, dass sie immer noch weitgehend „eine leere Hülle“ sei. „Ich fürchte“, sagte ein Teilnehmer, „dass die ePA wieder dem üblichen Hickhack der Partikularinteressen ausgesetzt sein wird. Es wird deshalb sehr lange dauern, bis wir die Daten wirklich zur Patientensteuerung, für Forschung und Prävention nutzen können“. Ein anderer kritisierte, dass die ePA zu sehr aus Sicht der Krankenkassen konzipiert sei und zu wenig aus Patientenperspektive, weshalb sie auch so zögernd angenommen werde. Stattdessen brauche es Plattformen, auf denen nicht nur Abrechnungsdaten verfügbar sind. „Wenn ich Bundesgesundheitsminister wäre, würde ich mir noch ganz andere, zusätzliche Daten wünschen: genetische Daten, Daten über Arzneimitteldossierung, über Gendermedizin und viele mehr. In einer Art Cockpit könnte man dann – unterstützt von AI – in Echtzeit viele Szenarien simulieren und die gewünschten Veränderungen im System steuern.“

Rat an die Regierung: offene und ehrlich politische Kommunikation
Entsprechend des Titels der Veranstaltung mangelte es bei diesem Experten-Talk nicht an Ratschlägen an die Politik. Wichtig seien selbstverständlich viel mehr präventive Ansätze, dazu gehöre es auch, die Gesundheitskompetenz der Menschen gezielt zu fördern. Er beobachte leider allzu oft eine „Infantilisierung der Bürger“ bezüglich ihrer eigenen Gesundheit: „Der Staat lässt nicht genug zu, dass wir uns selber um unsere Gesundheit kümmern“, kritisierte er. Was die politische Kommunikation anbelangt, rieten mehrere Teilnehmer der Politik in Berlin zu großer Offenheit und Ehrlichkeit: „Wir Deutschen gehen zu oft zum Arzt und ins Krankenhaus. Und das müssen wir auch so offen und ehrlich sagen. Denn nur wenn wir die Last im System reduzieren, kriegen wir auch eine vernünftige Patientensteuerung hin.“ Dabei helfe mitunter der Blick ins europäische Ausland – etwa nach Dänemark oder in die Niederlande – wo man zum Beispiel ohne vorherige Evaluation nicht in die Notfallaufnahme eines Krankenhauses gehen könne.

Ein Teilnehmer erinnerte an den legendären Spruch eines Gesundheitsministers, wonach man mit Gesundheitspolitik zwar keine Wahlen gewinnen, aber durchaus verlieren könne. Es bereite ihm Kummer, verriet einer, dass in Meinungsumfragen die Zufriedenheit mit dem Gesundheitswesen rapide abnehme. „Wenn jetzt die Erwartung geweckt wird, dass durch eine große Reform in wenigen Jahren alles besser ist und wir dann feststellen, dass es anders kommt und wir uns mitten in einer Baustelle befinden, kann das die Akzeptanz weiter beschädigen. Deshalb muss die Politik zu einer realistischen Erzählung über den Umbau und die Konsequenzen finden.“ Gefordert sei von der Politik nicht weniger als ein „neues Denken“: „Die Frage ist, ob man sich von einer Regulierungsphantasie verabschieden kann, in der die Leistungserbringer nur noch Vollstrecker politischer Ideen sind, oder ob man wieder mehr in eine Vertrauenskultur kommt.“
