Die Notfallversorgung in Deutschland ist in Not, daran zweifelt niemand. Die Institutionen und ihr Personal sind überlastet und unterfinanziert, die Steuerung der Patienten ist ineffizient, die Neigung von Menschen, in diesem Bereich des Gesundheitswesens zu arbeiten, schwindet. Gesetzgeberisch ist vieles im Gange, um die Situation zu verbessern – zum einen durch die jüngst beschlossene Krankenhausreform, die mit ihren intendierten Strukturanpassungen auch die Notfallversorgung tangiert, vor allem aber durch eine eigene Reform der Notfallversorgung sowie des Rettungsdienstes. Ob und in welchem Ausmaß die Reformwerke die gewünschten Effekte erzielen können, darüber diskutierten bei diesem 5. Online-Luncheon Roundtable der Rhön Stiftung in diesem Jahr folgende Experten:
Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Leiter des ECMO Zentrums Klinikum Köln, Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Dr. Sebastian Krolop, CEO & Founder Planet Health Foundation
Prof. Dr. Christian Wrede, Chefarzt Interdisziplinäres Notfallzentrum, Professor für Interdisziplinäre Notfallmedizin, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA)
Dr. Uwe Preusker, Gesundheitsökonom und Experte für die nordischen Gesundheitssysteme, v.a. in Finnland
Dr. Michael Bayeff-Filloff, Ärztlicher Landesbeauftragter Rettungsdienst, Bayer. Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Chefarzt Zentrale Notaufnahme RoMed Klinikum Rosenheim
sowie von der Rhön Stiftung Stifter Eugen Münch, Vorstandsvorsitzender Boris Augurzky, Vorstand Bernd Griewing, Geschäftsführerin Annette Kennel und Andreas Beivers, Leiter wissenschaftliche Projekte.
Das Problem in der Notfallversorgung, so formulierte es einer der Teilnehmer, seien nicht die wirklich schweren Notfälle wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, dafür sei das System im Prinzip gut aufgestellt, auch wenn hier und da Verbesserungen angebracht seien. Viel entscheidender sei, dass unter den Patienten in den Notaufnahmen sehr viele alte Menschen seien – der Peak liegt nach einer jüngeren Untersuchung bei 80 bis 90 Jahren – von denen jedoch zwischen 20 und 50 Prozent nur einen niedrigen bis moderaten Schweregrad aufweisen. „Selbst von denen, die mit Blaulicht in die Klinik eingeliefert werden, geht etwa ein Fünftel am gleichen Tag wieder nach Hause.“ Dies sei einer der wichtigsten Gründe für die Unterfinanzierung und gleichzeitig für die notorisch überforderten Kapazitäten der Notfallaufnahmen. Anders als früher würden diese leichten bis mittelschweren Notfälle immer weniger von den Hausärzten „abgefangen“ und landeten deshalb fehlgeleitet in den Notaufnahmen der Kliniken. Die Kernfrage sei somit die nach einer effizienteren Steuerung der Betroffenen.
Hoffnungsträger: Akutleitstellen und Integrierte Notfallzentren (INZ)
Zu den Maßnahmen, die im politischen Raum schon lange diskutiert werden und auch in der geplanten Reform des Notfallwesens vorgesehen sind, gehören unter anderem so genannte Akutleitstellen (mit den digital vernetzten Rufnummern 116 117 und 112), in denen Ärzte telefonisch oder per Video die Behandlungsdringlichkeit anhand standardisierter Abfragen ersteinschätzen (zum Teil auch KI-gestützt) und dann die passende Behandlung vermitteln, bestenfalls inklusive eines Termins. Ein Teilnehmer verwies darauf, dass solche strukturierten Abfragen außerhalb Deutschlands Standard seien und hierzulande leider erst sporadisch zum Einsatz kämen, weil „der Rettungsdienst so stark regionalisiert ist“; dabei würden strukturierte Abfragen „nachweislich das Überleben von Patienten erhöhen“. Er stellte auch in Frage, „ob wir so viele Leitstellen brauchen, wie wir haben“.
Verbesserung werden auch von der geplanten flächendeckenden Etablierung von Integrierten Notfallzentren (INZ) an Krankenhäusern erwartet, wie es sie teilweise schon gibt; in den INZ arbeiten die Notdienstpraxen der KVen und die Notaufnahmen der Kliniken zusammen und sollen auch mit niedergelassenen Praxen kooperieren. „Die INZ müssen unbedingt so schnell wie möglich kommen, das wird uns in den Notfallaufnahmen extrem entlasten“, meinte ein Diskutant. Ein anderer wandte ein, dass sich manches INZ wirtschaftlich vielleicht gar nicht mehr lohne, wenn die Patientensteuerung besser sei und appellierte deshalb: „Erst die Steuerung vorneweg, und dann schauen, wie viele Patienten noch wo und wie zu versorgen sind.“ Sein Argument untermauerte er mit einer Studie, wonach in den Notaufnahmen von fünf großen Kliniken mehr als die Hälfte der Patienten angab, vorher erfolglos den Kontakt zu niedergelassenen Ärzten gesucht zu haben. „Würde die Steuerung besser funktionieren, hätten wir 20, 30 Prozent weniger Patienten in den Notaufnahmen.“
Ein anderer, der Erfahrungen in mehr als zwei Dutzend Leitstellen sammelte, bestätigte, dass manchen Leitstellen den Rettungsdienst sehr schnell und oft losschicken, während andere den Notarzt erst relativ spät in Gang setzen. „Die Steuerung funktioniert derzeit überhaupt nicht“, beklagte er und forderte, für die kontinuierliche Optimierung der Patientenpfade viel mehr Daten zu erheben: „Dafür braucht es nicht das EKG und den Blutdruck der Patienten, sondern anonymisierte Daten über die notfallmedizinischen Ereignisse von der Alarmierung bis zur Entlassung sowie Daten über medizinische Kontakte in den zwei Wochen davor und danach. Erst aus diesen Daten lässt sich ableiten, ob die Steuerung erfolgreich war oder nicht.“
In die Zukunft gedacht: Hospital@Home für chronisch Kranke
Breiten Raum bei der Diskussion nahm ein, dass die Notaufnahmen auch deshalb so überlastet sind mit Bagatell- oder nur mittelschweren Fällen, weil andere Einrichtungen fehlen, die viel besser geeignet wären. Entsprechend anerkennend blickten einige Teilnehmer des Roundtable in Länder wie etwa die USA, wo es Hospital@Home-Dienste gebe, die neben der Pflege auch die Behandlung in den eigenen vier Wänden organisieren. So genannte Drehtürpatienten, die mehrmals im Jahr in Notaufnahmen kommen, deuteten auf das Versorgungsproblem chronisch kranker Menschen hin. „Wenn wir daran nicht arbeiten – durch Treat@Home-Konzepte, durch Monitorüberwachung zu Hause und andere Maßnahmen – werden die Notaufnahmen wegen des demographischen Wandels in den kommenden Jahren immer voller werden.“ Ein Experte verwies in dem Zusammenhang auf „sehr erfolgreiche“ Pilotprojekte, bei denen die Entlastung der Notaufnahmen und Rettungsdienste durch so genannte Rettungseinsatzfahrzeuge erzielt wird: In ihnen ist ein erfahrener Notfallsanitäter unterwegs, der vor Ort die medizinische Ersteinschätzung und meist auch gleich die notwendige Hilfeleistung erbringt und nur bei Bedarf einen Rettungswagen oder Notarzt hinzuzieht.
Die Berufe in den Notaufnahmen attraktiver machen
Von besserer Steuerung durch bessere Strukturen würden nicht nur die Patienten profitieren, sondern auch diejenigen, die in den Notaufnahmen arbeiten und oft unter der Belastung leiden – das war Tenor beim Online-Expertentalk. Ein Teilnehmer der Runde fragte: „Wo sind die jungen Leute, die in Zukunft mit Begeisterung Notfallmedizin machen“, er bedauere, dass die Vorbereitung auf diese Tätigkeit und vor allem der Umgang mit Telemedizin weder im Studium noch bei den Landesärztekammern eine Rolle spiele. Ein Kollege bestätigte: „Von jungen Kollegen, die in der Notaufnahme waren, höre ich oft: ´Ich bin jetzt sechs Monate durch die Hölle gegangen, das war sehr lehrreich, aber ich will das nie wieder machen.`“
Ein Dritter berichtete, dass Notfallmedizin auf junge Ärzte durchaus noch Attraktion ausübe, aber definitiv attraktiver werden müsse; ein Weg dahin könne die Ausbildung zum Facharzt für Notfallmedizin ein, ein anderer, „dass das übrige medizinische Personal selbständig behandeln darf“, in fast allen anderen Ländern sei dies erlaubt. Denn in Zukunft werde man „jede Hand in den Notaufnahmen brauchen“ – und Pflegepersonal sogar noch mehr als Ärzte. Für die Versorgung leichterer Notfälle in strukturschwachen Regionen sehe er durchaus die Bereitschaft von Hausärzten – wenn sie sehr gut für ihre Einzeldienste bezahlt würden (die Rede war von 2.000 Euro pro Tag). In den USA seien solche Notaufnahmen ohne Betten aber mit Basisausstattung gut etabliert, „dort werden 80, 90 Prozent der Notfälle gut behandelt“.